Rosa Schimmern auf dem Roten Fluss

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Ho-Chi-Minh-Memorial in Hanoi.

 

Große Asienreise/ Hanoi / Ockerfarben wie ein Bratschenton

 

 

Rosa Schimmern auf dem Roten Fluss
Große Asienreise Teil 3: Hanoi/Ockerfarben wie ein Bratschenton
Es war dunkel, als Herr P. auf dem Hanoier Noi-Bai-Flughafen landete. Seine Schritte in der Arrival-Halle waren zögernd, ja tastend. Wie kam er in die Stadt und dort wohin? Er hatte nicht die geringste Vorstellung von Hanoi, der Hauptstadt der sozialistischen Republik Vietnam. Er war einfach zu Hause nicht dazu gekommen, sich zu informieren, hatte kaum etwas gelesen. Und nun stellte er auch noch fest, dass er den Reiseführer, den er gekauft hatte, in Dresden vergessen hatte. Wo unterkommen? Er musste aufpassen, dass er nicht irgendwelchen Schleppern, die es bestimmt gab, in die Arme lief oder in einem langweiligen Hotel, das europäische Küche anbot, landete. Er wollte ins Zentrum der Stadt, in die Altstadt. Dass es eine gab, das wusste er. Sie sollte etwas Besonderes sein. Er hatte vor ein paar Monaten Fotos von Hanoi gesehen. Schmale dunkle Straßen voller Menschen und niedrige Läden, niedrige Häuser, grau, farblos, bröckelnder Putz. Die Fotos waren älteren Datums. Ein Bekannter hatte ihm erzählt, dass sich die verschlafene Provinzhauptstadt zu regen begann, zunehmend kräftig, seitdem die kommunistische Regierung der privaten Entwicklung der Wirtschaft kaum Hindernisse in den Weg legte. Trotzdem hatte er gemeint: Es würde dauern, ehe Hanoi Saigon, dem wirtschaftlichen Zentrum im Süden, ebenbürtig würde. In Saigon hatte sich Herr P. vor zwei Jahren mehrere Tage aufgehalten. Saigon, dessen äußeres Bild stark westlich geprägt war, hatte ihn beeindruckt. Die Stadt war bunt, laut, geschäftig, elegant, voller Lebenskraft. Herrn P´s Unentschlossenheit, die möglicherweise unsicher wirkte, muss aufgefallen sein. Er bemerkte, dass ihn ein Vietnamese beobachtete. Herr P. übersah ihn, behielt ihn aber im Blick. Der Mann, ziemlich jung, außergewöhnlich groß und schlank wie ein Bambusrohr, erwartete jemanden. Er hielt ein Stück Karton, das an einer Leiste befestigt war, in die Höhe. Darauf stand ein Name. Als Herr P. etwas Geld getauscht hatte, war er sicher, dass er sich unter Dauerbeobachtung befand. Das war ihm unangenehm. Er ging einige Schritte auf den Mann zu, der ihm nicht auswich. „Sie sind fremd hier“, sagte der Vietnamese. „Wohin wollen Sie?“, fragte er freundlich. - „In die Altstadt“, antwortete Herr P. – „Ich erwarte eine Dame aus Australien“, sagte der Vietnamese. „Wenn sie wollen, nehme ich Sie mit. Im Auto ist genug Platz.“ Er lächelte und zeigte tadellos gewachsene weiße Zähne. Er trug Jeans, ein blaues T-Shirt und schwarze Schuhe. Er machte einen vertrauenswürdigen Eindruck.
„Ich suche für die nächsten Tage ein preisgünstiges Hotel, keine Nobelhütte.“
„Kein Problem.“ Er nannte einen Namen, der Herrn P. nichts sagte. „15 US-Dollar die Nacht.“
„Mit Dusche?“
Und TV.“„
Und die Fahrt in die Stadt?
„Zehn.“
Herr P. wusste nicht, ob das zu viel war. Aber er akzeptierte das Angebot.
Sie werden es nicht bedauern. Es ist ein angenehmes kleines Hotel in der Altstadt.“
Die Australierin war eine kräftige junge Dame. Sie würde von ihrer Freundin, einer Dänin erwartet. Herr P. war müde, sie offenbar auch, so dass die Fahrt im großen Schweigen verlief. Helle Lichter unter dunklem Himmel. Im Scheinwerferlicht blitzte Asphalt auf. Palmenstämme, deren Wedel sich lautlos bewegten, traten hervor und sanken wieder ins Dunkel zurück. Riesige Reklameschilder säumten die Schnellstraße. Zwar erschien Herrn P. die Fahrt endlos lange, aber er fühlte sich behaglich. Es hatte sich wieder alles gefügt, wie meist, wenn er reiste. Er war nicht müde genug, um nicht wachsende Neugier zu spüren. Er war in dem Land, das die Amerikaner in die Steinzeit zurückbomben wollten, angekommen. Als Verlierer sind sie geflüchtet.
Verwirrend eng wurden die Gassen. Aus den Häusern drang ein Schimmern. Es roch nach scharfen Gewürzen. Der Kleinbus hielt vor einem hellen dreistöckigen Haus, das sich als Hotel zu erkennen gab. Freundliche, frische Fassade, ein kleiner Empfangsraum. Die Australierin wurde von ihrer dänischen Freundin mit großen Umarmungen begrüßt. Herr P. sah neidisch zu. Er hätte sich auch gern umarmen lassen, an diesem ersten Abend in Vietnam. „David“, stellte sich ein junger Mann vor. Er war, wie Herr P. am nächsten Tag erfuhr, der Chef des Hauses, um die Mitte zwanzig. Dass er sich ausgerechnet die amerikanische Aussprache des Namens zugelegt hatte, wunderte Herrn P.
Herrn P. wurde sofort ein schwarzer Tee angeboten. Das Aroma schwebte über der Tasse. Er setzte sich an einen blanken Tisch, streckte die Beine aus, lehnte sich zurück. Er hatte Mühe, sich auf die schnellen Ortsveränderungen einzustellen. Die fremden Sprachklänge, die langgezogenen Vokale, andere Gerüche, andere Fremde. Ein spätes Frühstück in Yangon, ein kleiner Mittagsimbiss auf dem neuen Flughafen in Bangkok und nun trank er schwarzen Tee in Hanoi. Quer über Südostasien ist er geflogen, von West nach Ost. 20 Dollar wollte David für die Nacht. Herr P. protestierte leise. 15 seien mit dem Fahrer abgemacht.
David grinste. „Gut, 15. Noch einen Tee?“ Herr. P. bat, seinen Rucksack aufs Zimmer zu bringen. Es trieb ihn hinaus. Er setzte die ersten Schritte in die Stadt, vorsichtig, Ausschau haltend, sich markante Punkte merkend, damit er den Weg zurückfand. Nur wenige Menschen waren auf den engen Straßen, die schwach beleuchtet waren. In den Häusern tönten Fernsehstimmen. Der Himmel war dunkel und ohne Sterne. An den Fassaden grellten Neonröhren. Herr P.war unentschlossen. Er spürte die Müdigkeit. An einem kleinen runden Platz, der  von Läden und Kneipen umgeben war, trank er ein Fassbier. Danach kehrte er ins Hotel zurück. Der Rucksack war aufs Zimmer geschafft worden.
Schwarzer Tee wurde im Backpackers Hotel, in dem Herr P. wohnte, zu jeder Gelegenheit und zu jeder Tageszeit serviert. Das ganze Hotel duftete nach schwarzem Tee und nach Bananen. Die gab es meist zum Frühstück. Für den Tee wurde nichts bezahlt. Eine gastfreundliche Geste. Traveller aus allen fünf Kontinenten wohnten in dem Hotel. Meist junge und jüngere Leute. Herr P. war mit Abstand der Älteste. Aber das schien hier niemanden zu interessieren, nicht mal Herrn P. selbst. Warum war er nach Hanoi geflogen, fragte sich Herr P., als er frühstückte. Er wusste es. Er war wieder zu einem Traumbild gereist, von dem er nicht genau wusste, wie es entstanden ist, dem Roten Fluss. Immer waren es Traumbilder, die ihn irgendwohin lockten:die Alhambra in Granada, die Akropolis in Athen, der Kanal von Korinth, die schwarz-braun schimmernden Tempel von Luxor, das ägyptische Alexandria, die großartigen Tempel von Angkor, die in der Landschaft standen, als seien sie aus der Erde gewachsen, die Loreley über dem Rheinufer. Hielt die Wirklichkeit den Traumbildern stand, dann kehrte ein großer Friede in Herrn P. ein. Und das nannte er das Wunder des Reisens.
Zum Roten Fluss, dorthin wollte er, sofort. Wie auf Bestellung tauchte der Fahrer auf, der Long hieß. Er gab später zu, dass er im weitesten Sinne ein Mitarbeiter des Hotels sei. Aber er betonte, dass er Unternehmer sei, selbstständig, für mehrere Hotels arbeite. „Das ist jetzt möglich.“ Und David, der zugehört hatte, sagte. Das Haus hier war stark verfallen. Wir haben es gekauft und saniert. Und jetzt sind wir Chefs. „Wir waren schnell. Jetzt, zwei Jahre später, sind die Grundstücke viel teurer geworden.“
Zwei Brücken führen über den Roten Fluss, eine für die Eisenbahn und eine für die Autos. Es sind Ungetüme aus Stahl und Nieten, Bohlen und Asphaltstreifen. Long  musste vor der Brücke warten, weil Herr P. den Fluss über die Eisenbahnbrücke zu Fuß überqueren wollte. Ein schmaler  Pfad war für Fahrräder und Fußgänger angelegt. Herr P. schaute über den Fluss, sog den warmen Wind ein, der Gewürze zu versprühen schien.
Den Roten Fluss bedeckte tatsächlich ein leichter rosa Schimmer. Breit war er. Goldbraune Sandbänke machten sich im Wasser breit, als wollten sie es verdrängen. An den Ufern des Roten Flusses grasten Rinder. Kleine Gärten säumten den Fluss. Gemächlich floss der Rote Flus durch die Stadt. Große neue Hotels, die so gesichtslos waren wie überall, schossen am rechten, dem westlichen Ufer, in die Höhe. Versicherungsgebäude reckten sich, Krane zerschnitten die Sicht. Am Fluss wirkte die Stadt unfertig. Hanoi baute, drang brutal ins flache Land ein. Es war dabei, der über Jahrhunderte gewachsenen Stadt eine Allerwelts-Maske überzustülpen. Das wird nicht aufzuhalten sein. Als ich zurückkehrte, saß Long im Schatten und rauchte eine Zigarette. Er versprach mir, die schönsten Orte Hanois zu zeigen, heute und morgen und übermorgen, wenn ich es wünsche. Die Ufer des roten Flusses waren es offenbar nicht.
Natürlich zum Ho Chi-Minh-Mausoleum. Der Revolutionsführer und Sieger über die Amerikaner in einem gläsernen Sarkophag. Die Ironie: Er befahl in seinem Testament, verbrannt zu werden. Die Geschichte hat gelegentlich merkwürdige Krümmungen. Schon bald war Herr P. sicher, dass den Vietnamesen der Sozialismus so gleichgültig ist wie das Wetter in Europa. Aber Ho verehren sie. Er ist ihr Nationalheld. Er hat Vietnam vom Kolonialismus befreit. Die Stadt hat schöne schattenreiche Alleen, elegante Boulevards, ein beeindruckendes Operngebäude. Am schönsten aber gefiel es Herrn P. am Hoan-Kiem-See, nur wenige Minuten von der Altstadt entfernt. Alte schattenreiche Bäume säumen das Ufer. Gepflegte Villen aus französischer Zeit stehen im Grün. In den Anlagen blühende Farbenpracht. Ein bisschen nicht von dieser Welt ist die die rote Lackbrücke.
Mehr als eine Woche hielt sich Herr P. in Hanoi auf. Als er ins Innere des Landes aufbrach, war er überzeugt, dass diesem Land der Erfolg sicher war. Von hohen Zuwachsraten berichteten die Zeitungen. Eine liebenswürdige Freundlichkeit, die die Ausländer glauben lässt, dass sie willkommen sind, lässt Wärme und Sympathie aufkommen. Eines aber beeindruckte Herrn P. besonders: Die Überzeugung, dass Arbeit und Ausdauer Erfolg und Wohlstand bringen, ist inzwischen in Vietnam unausrottbar. Zwei-, dreimal hörte er es deutlich: „Wir lassen die Regierenden in Ruhe, lassen ihnen ihre Privilegien. Dafür behelligen sie uns nicht. Eine Sorge allerdings war unüberhörbar, vor allem künftige Studenten im Goetheinstitut äußerten sie. Sie bangen um den Ockerton der Altstadt, fürchten Abrisse und flächendeckende gesichtslos Areale. Bereits jetzt gebe es hässliche Baubeispiele.
Vor seiner Abreise fragte Herr P. David, warum er sich den amerikanischen Namen zugelegt habe. „Zunehmend kommen Amerikaner nach Hanoi, auch in mein Hotel. Da ist ihnen ein solcher Name wie David vertraut. Er feixte frech und bat um ein paar Dollar Trinkgeld. „Vielleicht wird sie das wundern“, fuhr er fort, wir jungen Vietnamesen hassen die Amerikaner nicht. Wir wissen, was sie dem Land angetan haben, aber wir hassen die Davids nicht.“
„Einen Tee?“
„Ja, einen Tee.“
Als Herr P. Hanoi verließ, war sein Traumbild um zwei Töne reicher: Die ockerfarbigen Fassaden der Altstadt erinnerten ihn an einen Bratschenton, und es bereitete ihm keine Mühe, den feinen rosa Schleier auf dem Roten Fluss zu sehen, obschon er nicht ganz sicher war, ob er ihn wirklich gesehen hatte.
2007
(Aufmacher) Ho-Chi-Minh-Memorial in Hanoi.
Die Eisenbahnbrücke über dem Roten Fluss.
Markthändlerinnen.
Siegesdenkmal über die Amerikaner

// Texte und Fotos: Reinhard Delau.